Claire Beyer
200 x 100 x 3 cm (h x w x d)

Mit 12 Jahren bin ich nach Baden-Württemberg gekommen. Es war schrecklich! Die Mentalitäten waren so unterschiedlich, als würden wir aus dem Ausland kommen. Die Landschaft war ebenfalls ein Schock. Es hat lange gedauert, bis ich Fuß gefasst habe. Das Einzige, was mich in der neuen Heimat umgehauen hat, waren die blühenden Obstwiesen. Im Allgäu gab es nur verschrumpeltes Obst - hier konnten wir Äpfel, Birnen und Weintrauben direkt vom Feld essen.
Es war eine seltsame Stimmung in der Nachkriegszeit. In der Familie wurde über die Vergangenheit nie geredet. Ich wusste, dass mein Vater kein Nazi war und Hitler gehasst hat, aber sämtliche männliche Familienmitglieder behielten das Erlebte für sich. Ich hatte das Gefühl, sie waren aggressiv, hilflos und zerstört aus dem Schrecken des Krieges wieder ausgespült worden. Der Geschichtsunterricht in der Schule begann im Jahre 1949. So gesehen bin ich unpolitisch aufgewachsen. Ich habe mich aber die ganze Jugend über geschämt, Deutsche zu sein. Auch wenn nicht darüber geredet wird, spürt man als Kind den Zustand der Gesellschaft: Ganz Deutschland ist geduckt, beschämt und gedemütigt herumgelaufen. Dass ich blonde Haare und blaue Augen habe, hat es für mich noch schlimmer gemacht.
Der Umgang mit den Eltern war kompliziert – nicht nur wegen der Nachkriegszeit. Meine Eltern mussten viel arbeiten und hatten keine Zeit für uns. Wir haben auf der Straße mit unseren Freunden gespielt und als Kinder eine Parallelgesellschaft aufgebaut. Wir befanden uns außerhalb des elterlichen Wirkungskreises. Das war wunderbar. Hinzu kommt, dass die Rollen zwischen Eltern und Kindern vertauscht waren. Weil meine Mutter schwer krank war, mussten wir viel Verantwortung für sie übernehmen. All das hat dazu geführt, dass meine zwei Schwestern und ich unzertrennlich geworden sind.
Mich hat alles Extreme interessiert. Nord- und Südpol, Island, Afrika, Kuba, Marianengraben. Wenn ich ein Junge gewesen wäre, wäre ich Ranger in Kanada geworden. Durchs Lesen konnte ich meine Abenteuerlust stillen und hatte das Gefühl, die ganze Welt bereist zu haben. Ich durfte nicht aufs Gymnasium und nicht studieren. Meine Lehrer waren Elternfiguren für mich, haben mit mir politische Ereignisse wie den Mauerbau diskutiert, mich beruhigt, wenn ich aufgebracht war, und mir Bücher ausgeliehen. Schreiben war und ist für mich ein Ventil: Es hilft mir, die Dinge um mich herum zu verarbeiten.
Interview und Textfassung: Leonie Müller

Exhibited by:

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